Der Hexer von Salem
Rezension von Karsten Sassenberg

Pünktlich zur "Essen Spielt 2005" ist der Band "Der Hexer von Salem" erschienen, basierend auf der gleichnamigen Romanserie von Wolfgang Hohlbein. Allein der Name Hohlbein weckt bei mir Schaudergefühle. Oder besser gesagt Abscheu. Ich habe diverse Romane von ihm gelesen, zwar keinen Hexer, aber keiner davon hat mich zufrieden gestellt. Es war aber im Jahre 99, dass ich bei einer Kollegin in einen Hexerroman reinschauen konnte. Schaudernd erblickte ich eine Stelle, wo der Protagonist Robert Craven Shub-Niggurath, welche nichts anderes darzustellen schien als eine Fressmaschine, mittels eines Älteren Zeichens (ein bedruckter Stein) vernichtete. In diesem Moment glitt ich als Lovecraft-Fan in eine geistige Umnachtung. Und jetzt diese unsäglichen Werke als Setting für das Cthulhu-Rollenspiel?
Anfang Oktober habe ich mich auf dem "Auf den Inseln"(Ctulhu)-Con umgehört. Niemand der Anwesenden äußerte sich positiv oder gar erwartungsvoll zu diesem Thema.
Da liegt er nun, als Hardcover mit Lesebändchen, 264 Seiten voller überflüssiger Wörter. Hah! Schnell zur Hand genommen, um das Lesen hinter mich zu bringen. Das kann gar nichts Gutes sein, mal schnell blättern, hmmm. Also ist ja schon wirklich sehr, sehr schön aufgemacht. Lustige Fotos, sieht gar nicht schlecht aus. Ein Gedanke trifft mich nach einiger Zeit, nämlich die Erkenntnis: es funktioniert! Und ist sogar Interessant. Also mal die Fakten:
Der Band ist ein komplettes Rollenspiel. Er enthält leicht geänderte und abgespeckte Regeln des Cthulhu-Grundregelwerkes. Abgespeckt bedeutet, dass die ohnehin schon knappen Regeln von Cthulhu noch einmal verringert wurden, um Kampf noch einfacher zu machen, und um die SCs zu stärken. Denn das Buch erklärt ja, dass der "Hexer" zum Genre "Pulp" gehört. Wer mit dem Begriff nichts anfangen kann: so wurden einst in Amerika die billigen Storys von Serienhelden bezeichnet, die auf ebenso billigem Papier gedruckt waren. (Daher entlehnt ja auch Tarantinos Film "Pulp Fiction" seinen Titel.)
In Deutschland kennt in Romanform nahezu jeder "Pulp" als "John Sinclair", "Larry Brent", "Indiana Jones" usw. Und so begann der Hexer in den Achtzigern, als 14tägig erscheinende Groschenromanserie. Und in solchen Werken sind die Helden immer gewitzter und stärker als der Durchschnittsmensch. Im "Hexer"-Universum werden also die SCs mit dreimal so vielen Trefferpunkten ausgestattet, als es im gewöhnlichen Cthulhu-Rollenspiel der Fall ist.
Auch die Regeln für Wahnsinn wurden entschärft, denn hier geht es um Helden. Neu ist die sogenannte "Hexer"-Fertigkeit. Diese ermöglicht einem Charakter das Zaubern, ohne diese Fertigkeit darf er eine Magie anwenden. Es können sich aber auch andere Gaben dahinter verbergen, welche alle "Pulpig" bzw. "Cinematisch" wirken, aber immer erhält ein Charakter hierfür auch einen sogenannten Fluch! Das Prinzip kennt man aus den Superhelden-Comics. Supermann ist stark, aber Kryptonit ist tödlich für ihn. Spiderman ist ein famoser Kletterer, aber Privat voller Zweifel und moralischer Bedenken. Somit werden also dem Spielleiter und den Spielern tolle Möglichkeiten für Abenteuer geliefert. Denn es muss nicht unbedingt sein, dass ein SC sich seiner "Hexer"-Gabe bewusst ist, oder dass er den damit einhergehenden Fluch schon bemerkt hat.
Und nun zu der Frage: wie spielt man dies?
So, wie die Geschichten des "Hexers" oder eben "John Sinclairs". Schnell, actionlastig und nicht immer strickt logisch. Keine langen Recherchen, der Spielleiter macht sich nicht so einen Kopf über die historischen Details, wie es in einem "normalen" Cthulhu-Szenario der Fall ist. Genügend Anregungen sind in dem Band zu finden, sämtliche publizierten Geschichten werden kurz vorgestellt, inklusive Auflösung und welche Figuren sich als Spielercharaktere anbieten würden. Wer die Hexer-Bände noch lesen möchte, sollte also Abstand halten.
Und was wäre der "Pulp" ohne die ekeligen Bösewichter? Hier sind sie alle anzutreffen, Dr. Fu Manchu, Dr. Mabuse oder die aus den "Hexer"-Bänden stammenden "Falken von Zagreb".
Kapitel für den Spielleiter inspirieren zum Entwurf von Geschichten im "Hexer"-Universum. Die wichtigsten großen Alten werden vorgestellt, die Illustrationen wurden den Chaosium-Regeln entnommen. Hier wird auch optisch der Unterschied zwischen "Cthulhu"- und "Hexer"-Rollenspiel deutlich. Wo das gewöhnliche RSP subtil und mit Andeutungen daherkommt, wird beim Hexer alles dargestellt. Die großen Alten und ihre Handlanger fordern zum Kampf! Und dies darf wörtlich genommen werden. Auch das Layout unterscheidet den "Hexer" von den gewöhnlichen Cthulhu-Publikationen. Keine angeschmorten Seiten, eine eher mattgelbliche Färbung erzeugt den Eindruck von billigem Papier. Keine Sorge, es wirkt nur so, das Berühren zeugt von schönem, stabilen Material.
Das Einsteiger Abenteuer "Das Erbe der Templer" von Thomas Finn zeigt schon sehr deutlich, wo der Tentakel wächst. Inhalt: Eine Jagd, welche in England beginnt, nach Deutschland führt und in Dänemark endet.
Und durch die im Grunde kompatiblen Regeln sowie ein Kapitel mit Anregungen kann man auch die für das "Cthulhu"-Rsp. erschienenen Abenteuer benutzen, und umgekehrt. Somit können also auch Spielleiter ihre Gruppen bei Laune halten, bis nächstes Jahr die ersten "Hexer"-Abenteuer bei Pegasus erscheinen. Die soeben komplett erschiene "Orient-Express"- Kampagne würde sich hierfür gut anbieten. Fazit: eine runde Sache. Wer auf den "Hexer" steht, bekommt hier einen tollen Band, der alles enthält. Zwar werden nur 13 Berufe für SCs angeboten, aber es wird kurz erläutert, wie man eigene Berufe generiert, oder man greift einfach auf das veröffentliche Cthulhu-Material zurück.
Regeltechnisch entspricht der "Hexer" dem amerikanischen "Pulp Cthulhu", erweitert um die Hexer-Fertigkeit. Tolle Illustrationen (viele humorvolle) bereichern den Text.
Der Lovecraft-Purist erhält hier ein Setting, das sich sehr, sehr weit von Lovecrafts Ideen entfernt. Hier sind die großen Alten nicht wirklich besonders "helle". Aber wer sich davon nicht verschrecken lässt, der kann den Mythos einmal anders erleben. Und außerdem, wer will denn nicht einmal mit Sherlock Holmes auf die Jagd gehen (war der Hund von Baskerville doch anders?) oder mit Kapitän Nemo dinieren? Und auch wer mit Cthulhu bisher nichts anfangen konnte, sollte hier durchaus einen Blick riskieren. Wenn man alles nicht so ganz ernst nimmt und es von der "pulpigen", "trashigen" Seite nimmt, macht es richtig Spaß. Man kann das Ganze inhaltlich durchaus etwas mit Midgard 1880 vergleichen.
Ich mag Hohlbein nicht, aber dieses Quellenbuch hat mich wirklich äußerst positiv überrascht. Lesen werde ich den Hexer bestimmt nicht, aber sehr gerne spielen! Action, Lachen und ein Schuss Horror. Ein leckerer Cocktail!


Der Hexer von Salem
von Diversen, nach dem Konzept von Heiko Gill und Frank Heller
Pegasus Press; Oktober 2005
260 Seiten; € 34,95 (bei
Pegasus)